Die wiedergefundenen Zeit Marcel Proust: Der Begriff der Reminiszenz

Belletristik

Es ist frappierend, dass die Reminiszenzen bei Proust ganz und gar vielfältig sind. Sie sind wie Inseln des Vergangenen.

Marcel Proust, 1895.
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Marcel Proust, 1895. Foto: Otto Wegener (PD)

22. März 2023
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Jedes Mal beziehen sie sich auf etwas anderes: auf Combray, auf Venedig, auf Balbec. Dasselbe gilt für die Reminiszenzen, die nicht wiedererkannt werden, die individualisierte Ereignisse sind: Martinville, Hudimesnil, das Septett. «Die» Reminiszenz, die das Eine in einer einzigen absoluten Ekstase zutage treten liesse, gibt es nicht. Diese Vielfältigkeit der Reminiszenzen entspricht übrigens der, wie Mauriac es nannte, «totalen und schrecklichen Abwesenheit Gottes» in der Recherche, einer Abwesenheit, die bei der christlichen Kritik für unaufhörliches Entsetzen gesorgt hat, nicht ohne Grund übrigens, zumindest aus ihrer Sicht, denn es ist eine Tatsache, dass wenige Werke mit solcher Gelassenheit in dem von Nietzsche prophezeiten Untergang zu verharren scheinen, indem sie die Innerlichkeit einer unendlichen Subjektivität ohne Andacht beschreiben.

Der vielfältigen Fülle der Reminiszenzen mangelt es nicht an einer einheitlichen Fülle mystischer Natur. Innerhalb von Prousts Werk ist sie die jeweils einzig mögliche Fülle, eine Fülle, die bis zum Grund, bis zur Gänze geht. Die Gefühlsintensitäten werden in diesem Sinne von einer unendlichen Subjektivität durchlebt. Nicht aus Widerstand einem göttlichen oder zumindest ausserhalb von ihr liegenden Absoluten gegenüber, hält diese die Spuren der Endlichkeit fest. Hingegen vervielfältigt sie das, was für sie die einzige Erfahrung des Absoluten ist. Was eine solche Möglichkeit der Vervielfältigung des Absoluten in sich birgt, ist buchstäblich unendlich.

In jeder Reminiszenz erfährt das Subjekt seine Unendlichkeit und Unsterblichkeit, aber dieses Erfahren, von keiner fixen Grenze eines absolut Äusseren beschränkt, kann auf zweierlei Weise gesteigert werden: durch die Anzahl der Reminiszenzen und durch deren Verständnis, was die Empfindung intensiviert. Unmittelbar vor der Matinee Guermantes hat der Erzähler drei Erinnerungserlebnisse, rasch aufeinanderfolgend, und diese wundersame Abfolge bedeutet einen Zuwachs der unendlichen Ressourcen des Subjekts, eine Vervielfachung ermutigender Gesten, die dem Erzähler das verschafft, was er auf eine bezeichnend triviale Weise – denn es scheint, dass diese Kraft selbst so gewaltig ist, dass sie das kunstvolle Metaphernspiel für einen Moment unterbricht – einen ungeheuren, noch nicht dagewesenen «Lebenshunger» nennt. Aber diese Vervielfachung kommt ebenso einer Vertiefung der Kenntnisse dieser Gefühlsereignisse zugute, die untrennbar mit ihrer Intensivierung verbunden ist. Die einzige Art, sagt der Erzähler, die Erinnerungen «nachhaltiger auszukosten, bestand in dem Versuch, sie vollständiger zu erkennen»1. Die Fülle hat also Abstufungen, denn sie variiert in Abhängigkeit zum unendlichen Subjekt.

Am Ende tritt ein solches Subjekt von dieser Meisterschaft und Fülle zutage, das womöglich die Bezeichnung einer cartesianischen Meditation verdient – vorausgesetzt, man hebt hervor, dass, wie wir später sehen werden, die oberflächlich an Descartes und Husserl erinnernde Denkbewegung hier genau umgekehrt ist. Gilles Deleuze verlangt uns eine schwere ontologische Entscheidung ab, um die Erinnerung zu verstehen; wir müssen nicht nur davon ausgehen, dass es das Virtuelle gibt, sondern auch begreifen, dass es sich für uns als solches wirklich manifestieren kann. Mit dieser ontologischen Lesart verbunden ist die Vorstellung, dass der Gegenstand der Reminiszenz das Entscheidende sei, da er mit der besonderen Eigenschaft der Virtualität versehen ist.

Nun verleitet die Vielfältigkeit der Reminiszenzen aber dazu, ihre konzeptuelle Einheit nicht in einer Objektivität zu suchen, auf die sie hinauslaufen müssten, sondern vielmehr im Subjekt, das sie erfährt. Nichts ist a priori für die Erinnerung bestimmt. Alles, was sich ereignet hat, kann Gegenstand der Erinnerung sein; alles, was sich ereignet, kann ihr Auslöser sein. Diese Erfahrung macht der Erzähler in den Anlagen der Champs-Élysées, als ein dumpfer, feuchter Geruch in der Nähe des Toilettenhäuschen bei ihm einen wahrhaften Rauschzustand auslöst, da er ihn an das Gemach seines Onkels Adolphe in Combray erinnert.2

Damals beklagt er sich, von etwas derart Bedeutungslosem bewegt zu sein, in diesem Moment noch im Glauben, die Literatur, die er anstrebt, müsse von grossen Ideen handeln. In Wirklichkeit ist das, was hier zum Ausdruck gebracht wird, auch wenn es der Erzähler selbst noch herausfinden muss, dass die eigentliche Bedeutungslosigkeit in Bezug auf den jeweiligen Gegenstand der Erinnerung ebenso wie, mit dieser Banalität verbunden, ihre möglicherweise unbestimmte Vielfältigkeit sie als Ereignisse einer Subjektivität und nicht einer besonderen Objektivität ausweisen. Die Dinge haben darin ebenso wenig Platz wie die Wesen in der Proustschen Liebeslehre, wo das letzte Wort der Geisteskraft eines vereinzelten Subjektes zufällt – fähig dazu, die Objekte seiner Begierde zu vervielfältigen und zu ersetzen, und das ihren Verlust, wenn auch nach einer schmerzlichen Wegstrecke, stets überlebt.

Doch es gibt einen grossen Unterschied zwischen der Liebe und der Reminiszenz. Auch wenn die Liebe das Subjekt letztlich sich selbst überlässt, ist es in dieser Selbstpräsenz nicht mit einem Wahrheitsmotiv verbunden. Am Anfang von Die wiedergefundene Zeit ist das Subjekt ein Einzelgänger und Überlebender, aber es ist ohne Gewissheit und ohne Beschäftigung. In den vorangegangenen Bänden hat man gesehen, wie es über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg nach Orten und Lebensweisen suchte, wo das Erproben der Fülle aus der Ferne besehen möglich scheint. Die Weltläufigkeit, die Freundschaft, die Liebe werden zunächst als Erfahrungen herbeigesehnt, die dazu geeignet sein könnten, uns ein Geheimnis zu enthüllen, dessen Enteignung unsere gesamte Existenz in Unruhe versetzte. Das Buch erzählt davon, wie diese Erfahrungen gemacht und ihr ganzer Vorrat ausgeschöpft werden.

Sie kommen und gehen wie ein Phänomen der Gezeiten. Das Ende von Im Schatten junger Mädchenblüte zeigt das Abebben der Freundschaft, das Ende von Guermantes das Abebben des mondänen Lebens, das Ende von Die Flüchtige das Abebben der Liebe. Der Erzähler ist bis zu den Grenzen dieser Lebensformen vorgestossen, übrigens ohne dafür eine Willensanstrengung aufgebracht zu haben, sie haben ihn an die Grenzen ihrer selbst geführt, und die Intensität, die das Verlangen nach ihnen umhüllte, ist zurückgewichen. Übrig bleibt ein Subjekt ohne Fülle, das auch ohne Wahrheit ist.

Bis zur Wiedergefundenen Zeit erfährt die Wahrheit eine kontinuierliche und unglaubliche Flexion. Von Falte zu Falte lässt sie uns in allgemeinem Zweifel zurück. Dies ist frappierend, wenn man zwei Formen der Wahrheit untersucht, mit denen der Erzähler insbesondere vor dem Schluss konfrontiert wird: die emotionale Wahrheit und die «detektivische» Wahrheit. Die emotionale Wahrheit ist das, was man sucht, wenn man fragt: Liebe ich Albertine wirklich? Diese Frage führt zunächst zu einer Vielzahl kleiner Falten, die man ankreuzt, indem man ja, dann nein, dann ja sagt usw.. Albertines Verschwinden verursacht zunächst eine grosse Falte, die alle vorherigen aus ihrem schmerzhaften und heftigen Ja auslöscht. Doch das Einsetzen des Vergessens löscht diese grosse Falte seinerseits aus, faltet sie auf oder klappt sie in sich zusammen, wie auch immer: Nach dem ganzen Ein- und Auseinanderfalten bleibt am Ende von einem Wahrheitsbegriff wenig übrig.

Die Frage der detektivischen Wahrheit wäre vielmehr: Was hat Albertine an diesem Tag und zu welcher Stunde, an welchem Ort und mit wem gemacht? Eine Frage, die durch ihre Wiederholung ihr gomorrhaeskes Leben bestätigen oder widerlegen soll. Die Untersuchung dient dazu, der Falte eine Überzeugung einzuprägen, sie zu stützen oder endgültig zum Verschwinden zu bringen. Nach Albertines Tod scheint Aimés Brief, in dem er vorgibt, in Balbec das eindeutige Geständnis einer Wäscherin aufgefangen zu haben, die Sache gerade zu falten. Doch dann behauptet Andrée im Laufe eines Gesprächs, dass Albertine nie die Neigung gehabt habe, die Marcel ihr zuschreibt. Eine riesige Falte, die die vorherige ausstreicht. Erst viel später gesteht Andrée nun das genaue Gegenteil.

Allerdings regt sich noch weiterer Zweifel, denn der Erzähler bemerkt, dass gewisse Eigenheiten ihres Charakters sie dazu verleiten, in bestimmten Momenten genau das zu sagen, was, ob wahr oder falsch, ihr Gegenüber verletzen könnte. Noch später wird Andrée eine Art Schlüssel zu allen Rätseln in Albertines Verhalten liefern, indem sie enthüllt, dass sie nach ihrer Typhuserkrankung oft zu folgenlosen Handlungen, unpassenden Abreisen oder Kehrtwendungen fähig war und es daher kein Geheimnis, keinen geheimen Sinn hinter den zahlreichen Ungereimtheiten ihres Verhaltens gab. Deleuze hat die Präsenz des Wahnsinns in der Recherche richtig erkannt.

Dieser erschüttert die Voraussetzung einer detektivischen Wahrheit, die es zu suchen gilt, und steht am Anfang der Verwirrungen und Verkehrungen, in die wir immer wieder verstrickt werden. «Wie kann man noch etwas als wahr hinstellen», fragt der Erzähler, der zunächst glaubte, Albertine sei leicht zu haben, dann auf heftigen Widerstand stiess und sie schliesslich mühelos erobert, «wenn das, was man für wahrscheinlich hielt, sich später als falsch erwies, um in dritter Instanz wiederum wahr zu werden?»3 Die Reihe ist noch nicht zu Ende, in der Recherche gibt es immer eine vierte, fünfte, sechste Instanz, die möglich scheint – in dieser Unbestimmtheit immer so fort. Und dies könnte ihre allgemeine Formel für die Flexion der Wahrheit sein.

Die Reminiszenz ist also das, was das Subjekt zur gleichen Zeit mit einer Wahrheit und einer Fülle verbindet. In diesem Sinne ist sie vielleicht eine Art Cogito, unter der Bedingung, dass man das Cogito seiner Funktion und weniger seiner Bedeutung nach auffasst; weniger als das, was eine erste Gewissheit ausstellt, als das, was sich am Ende einer einfachen Wahrheitssuche ergibt – mit der Implikation, den privilegierten Status des Subjekts zunächst nicht vorauszusetzen.

Einige Seiten in Die wiedergefundene Zeit haben den Ton der Metaphysischen Meditationen. Doch der Unterschied zu Descartes ist gross, denn hier ist die erste Gewissheit auch die Schlussvorstellung. Sie tritt im letzten Augenblick ein, am Ende der Zeit, nachdem die Welt ausgeschöpft ist. Es gibt keine anfängliche und willentliche Abkehr von allen möglichen Illusionen; sie werden vielmehr allesamt durchgespielt, bis sie von sich aus zurückweichen. Ausgehend von Descartes betrieb die Phänomenologie zunächst die Aussetzung des Zweifelhaften und Unwesentlichen. Sie versuchte zu einem ursprünglichen Licht vorzustossen, in dem die Dinge gewissermassen in ihrem Urzustand erschienen, in dem die Erscheinung selbst erschiene.

Ihr eigener Impuls trieb sie in Richtung eines immer Grundlegenderen, immer Ursprünglicheren: Eugen Fink sagte sehr treffend, dass sich die Grundfrage der Phänomenologie als die Frage nach dem Ursprung der Welt fassen lasse. Proust fordert vielmehr dazu auf, das Licht nur am Ende der Zeit, am Ende der Durchquerung der Welt zu suchen. Sich auf dieses Letzte und nicht auf das Ursprüngliche zu verlegen, lässt die Dinge im Lichte der Wahrheit erscheinen: Die wahren Weissdorne sind die Weissdorne der Vergangenheit, die wahren Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat. Jedes Objekt scheint in der Lage zu sein, das Cogitatum dieses Cogito zu sein. [...]

Maël Renouard

Fussnoten:

1 Die wiedergefundene Zeit. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 274.

2 Im Schatten junger Mädchenblüte, 98.

3 Guermantes, 507.

La notion de réminiscence, Auszug aus einer Vortragsschrift im Rahmen der Tagung „Proust dans l'œil des philosophes“, die von Maël Renouard und dem Centre international d'étude de la philosophie française contemporaine (CIEPFC) im März 2006 an der Ecole Normale Supérieure in Paris (rue d'Ulm) veranstaltet wurde.


Aus dem Französischen von Martin Alexander Sieber